Passive Morphogenese der Anlage des Enddarms (rot) eines Fruchtfliegenembryos, gesteuert durch Kräfte aus den Verformungen (Pfeile) des Keimstreifes (weiß) und des Mitteldarms (violett), dargestellt von der Rückenseite (oben) und der Seite (unten) des Embryos. © Daniel S. Alber, Shiheng Zhao et.al., PNAS, 2025
Während der Morphogenese von Geweben formen und organisieren sich Zellen und Gewebe, um komplexe Strukturen und Organe zu bilden. Dieser Prozess ist entscheidend für die Entwicklung und das Wachstum von Organismen und wird durch genetische, mechanische und umweltbedingte Faktoren beeinflusst. Morphogenese ist oft das Ergebnis aktiver biologischer Prozesse, die Kräfte innerhalb des Gewebes erzeugen. Sie kann aber auch passiv sein, wobei Verformungen durch Kräfte entstehen, die durch umgebende Gewebe an ihren Rändern ausgeübt werden.
Shiheng Zhao und Pierre Haas vom Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme (MPIPKS) und vom Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG) haben gemeinsam mit ihren Kooperationspartnern an der Princeton University (USA) und am Flatiron Institute in New York, USA, ein minimales mechanisches Modell entwickelt, das die Entwicklung des Enddarms der Fruchtfliege Drosophila melanogaster als Beispiel für diese passive Morphogenese beschreibt.
Durch ihre kombinierten experimentellen und theoretischen Ansätze fanden die Forschenden heraus, dass die komplexen Formveränderungen der Anlage des Enddarms – einer Gruppe von Zellen, aus denen der Enddarm der Fliege entsteht – durch mechanische Kräfte verursacht werden können, die von den umgebenden Geweben ausgehen.
Daniel Alber von der Princeton University und einer der beiden Hauptautoren der Studie sagt: „Das Gewebe wird durch die umliegenden Gewebe durch einen Prozess namens ‚mechanische Kopplung‘ verformt. Dabei werden die von den umgebenden Geweben ausgeübten mechanischen Kräfte auf die Anlage des Enddarms übertragen, wodurch es seine Form verändert. Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass deren komplexe Form durch einfache mechanische Prinzipien und nicht durch komplexe genetische Mechanismen erklärt werden kann.“
Shiheng Zhao, der andere Hauptautor, fügt hinzu: „Pierre Haas und ich haben ein minimales Modell entwickelt, mit dem sich die mechanischen Kräfte berechnen lassen und somit die Verformung des Gewebes nicht nur in normalen Fliegenembryonen, sondern auch bei verschiedenen genetischen Störungen reproduzieren lässt.“
Pierre Haas und Stas Shvartsman fassen zusammen: „Unsere Studie liefert wichtige Erkenntnisse um die Gewebemorphogenese und die Entwicklung von Organen und Geweben in verschiedenen Organismen zu verstehen. Unsere Ergebnisse unterstreichen die Rolle der mechanischen Kopplungen zwischen Geweben für die Entstehung von Formen während der Entwicklung. Zukünftige Studien werden versuchen, die molekularen und zellulären Mechanismen aufzudecken, die diese passive Morphogenese steuern, sowie deren Auswirkungen auf die Gewebeentwicklung und auf Krankheiten.“
Daniel S. Alber, Shiheng Zhao, Alexandre O. Jacinto, Eric F. Wieschaus, Stanislav Y. Shvartsman, and Pierre A. Haas: A model for boundary-driven tissue morphogenesis, PNAS, 18. September 2025, 122 (38) e2505160122
https://doi.org/10.1073/pnas.2505160122