Bestimmte Proteine, die normalerweise in den Zellen verteilt sind (obere Abbildungen), bilden bei Zellstress punktförmige Kondensate im Zytoplasma, die als Stressgranula bezeichnet werden (Mitte). Lipoamid verhindert gezielt die Kondensation der Stressgranula-Proteine, sodass diese an ihren ursprünglichen Ort zurückkehren (unten). © Uechi et al., Nat Chem Biol (2025) / MPI-CBG
Ein Forschungsteam des Max-Planck-Instituts für molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG) in Dresden und der Universität Edinburgh hat ein kleines Molekül identifiziert, das einen neuen Therapieansatz für neurodegenerative Erkrankungen wie die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) eröffnen könnte. Die Studie unter der Leitung von Anthony Hyman (MPI-CBG) und Richard Wheeler (Universität Edinburgh) wurde in Nature Chemical Biology veröffentlicht und zeigt, dass die das Molekül Lipoamid die Bildung pathogener Stressgranula verhindern kann – proteinreiche Kondensate, die mit zellulärem Stress und ALS in Verbindung stehen.
ALS ist eine schwere neurodegenerative Erkrankung, bei der die motorischen Nervenzellen nach und nach zerstört werden, was zu Lähmungen und schließlich zum Tod führt. Trotz intensiver Forschungsbemühungen sind die Behandlungsmöglichkeiten nach wie vor begrenzt und weitgehend unwirksam, um das Fortschreiten der Krankheit aufzuhalten. Ein neuer Forschungsbereich befasst sich mit Stressgranula – membranlosen Kondensaten, die sich als Reaktion auf Stress bilden und sich normalerweise wieder auflösen, sobald sich die Zelle erholt hat. Bei ALS jedoch bleiben einige Bestandteile dieser Granula, darunter Proteine wie FUS und TDP-43, ungewöhnlicherweise im Zytoplasma eingeschlossen und bilden langlebige Aggregate. Es wird vermutet, dass diese Aggregate die Genregulation und die DNA-Reparatur stören, indem sie wichtige Proteine aus dem Zellkern fernhalten.
„Wir waren auf der Suche nach nicht-toxischen Verbindungen, die Stressgranula auflösen können, ohne andere Zellfunktionen zu beeinträchtigen“, erklärt Hiroyuki Uechi, Erstautor der Studie. „Wir fanden heraus, dass Lipoamid den Redoxzustand bestimmter Proteine in Stressgranula modifiziert. Dadurch wird verhindert, dass sie sich zu Granula verdichten, wodurch sie in den Zellkern zurückkehren und ihre normale Funktion wieder aufnehmen können.“
Das Team konnte nachweisen, dass Lipoamid motorische Defekte sowohl in Fliegenmodellen für ALS als auch in im Labor aus menschlichen Zellen gewonnenen Motoneuronen mit ALS-assoziierten Mutationen verbesserte. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Modulierung der Proteinkondensation eine vielversprechende Strategie für therapeutische Interventionen sein könnte – nicht nur bei ALS, sondern möglicherweise auch bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen, die mit Proteinaggregation in Verbindung stehen.
Die Forschung wurde an Fliegenmodellen und im Labor kultivierten menschlichen Neuronen durchgeführt. Diese Ergebnisse sind zwar vielversprechend, aber noch nicht für die klinische Anwendung bereit. Es sind weitere Studien erforderlich, um festzustellen, ob ähnliche Effekte auch beim Menschen beobachtet werden können.
Diese Studie bestätigt auch die umfassendere Rolle der Phasentrennung bei Gesundheit und Krankheit und zeigt, wie winzige Moleküle einen großen Einfluss auf die Zellorganisation haben können.
Uechi, Hiroyuki, Sindhuja Sridharan, Jik Nijssen, Jessica Bilstein, Juan M. Iglesias-Artola, Satoshi Kishigami, Virginia Casablancas-Antras, Ina Poser, Eduardo J. Martinez, Edgar Boczek, Michael Wagner, Nadine Tomschke, António M. de Jesus Domingues, Arun Pal, Thom Doeleman, Sukhleen Kour, Eric Nathaniel Anderson, Frank Stein, Hyun O. Lee, Xiaojie Zhang, Anatol W. Fritsch, Marcus Jahnel, Julius Fürsch, Anastasia C. Murthy, Simon Alberti, Marc Bickle, Nicolas L. Fawzi, André Nadler, Della C. David, Udai B. Pandey, Andreas Hermann, Florian Stengel, Benjamin G. Davis, Andrew J. Baldwin, Mikhail M. Savitski, Anthony A. Hyman, and Richard J. Wheeler. Small-molecule dissolution of stress granules by redox modulation benefits ALS models. Nat Chem Biol (2025). https://doi.org/10.1038/s41589-025-01893-5