Obwohl Wale und Delfine ihr ganzes Leben im Meer verbringen, haben sich diese luftatmenden Säugetiere ursprünglich aus Landbewohnern entwickelt, die vor etwa 50 Millionen Jahren lebten. Dieser Wechsel vom Land zum Wasser war von tiefgreifenden anatomischen, physiologischen und verhaltensbezogenen Anpassungen begleitet, die letztlich ein Leben im Wasser ermöglichten. Welche Veränderungen in der DNA diesen Anpassungen zugrunde liegen, ist aber noch weitgehend ungeklärt. Daher suchten Forscher am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG), am MPI für Physik komplexer Systeme (MPI-PKS) und am Zentrum für Systembiologie Dresden (CSBD) systematisch nach Genen, die bei den Vorfahren von Walen und Delfinen verloren gegangen sind. Das Forscherteam entdeckte insgesamt 85 Genverluste. Interessanterweise haben einige Genverluste den Walen wahrscheinlich geholfen, sich an ihre neue Umgebung anzupassen. Die Ergebnisse wurden jetzt in der Zeitschrift Science Advances veröffentlicht.
Wale oder Delfine können aufgrund ihres Aussehens leicht mit großen Fischen verwechselt werden. Allerdings sind Wale, genau wie ihre engsten Verwandten, die Nilpferde und Kühe, luftatmende Säugetiere, deren evolutionäre Vorfahren sich daran angepasst haben, ihr ganzes Leben im Ozean zu verbringen. Während dieses Übergangs vom Land zum Wasser kam es zu erheblichen Veränderungen in der Anatomie und Physiologie. So entwickelten Wale und Delfine stromlinienförmige Körper und verloren ihre Körperhaare, um schneller schwimmen zu können. Sie entwickelten dicke Fettpolster zum Schutz gegen Kälte. Ihre Beine gingen verloren, während sich große Schwanzflossen zum Antrieb ausbildeten. Vergrößerte Sauerstoffspeicher ermöglichen ihnen lange Tauchgänge und ein flexibler Brustkorb erlaubt, dass ihre Lunge während Tauchgängen in Tiefen von 100 Metern und mehr kollabieren kann.
Welche Veränderungen in der DNA (dem Genom) für diese Anpassungen wichtig sind, ist aber noch größtenteils unverstanden. Deshalb suchte ein Forscherteam um Michael Hiller am MPI-CBG, am MPI-PKS und am CSBD zusammen mit Kollegen von der University of California und dem American Museum of Natural History in New York systematisch nach Genen, die während diesem evolutionären Wechsel vom Land zum Wasser verloren gingen. Dazu untersuchten die Wissenschaftler die Genome der heutigen Wale, Delfine und anderer Säugetiere auf Mutationen, die Gene deaktivieren. Matthias Huelsmann, der Hauptautor der Studie, erklärt: „Wir haben nach Mutationen gesucht, die bei allen Walen und Delfinen vorkommen, aber nicht bei Nilpferden oder anderen Landsäugetieren. Diese Mutationen deuten darauf hin, dass das jeweilige Gen bei den Walvorfahren verloren gegangen sein muss.“
Insgesamt 85 Genverluste wurden in dieser systematischen Suche entdeckt. Viele dieser Gene gingen wahrscheinlich verloren, weil ihre Funktion nicht mehr gebraucht wurde. Beispielsweise wird Speichel im Wasser nicht mehr benötigt, um Nahrung zu schlucken. Das erklärt vermutlich, warum ein Gen, was an der Speichelsekretion beteiligt ist, verloren ging. Interessanterweise könnte der Verlust anderer Gene für die Ur-Wale sogar von Vorteil gewesen sein. „Ein Genverlust, den wir entdeckt haben, verbessert wahrscheinlich die Fähigkeit von Walen, eine bestimmte Art von DNA-Schaden zu reparieren. Dieser wird durch den erheblichen Sauerstoffmangel beim Tauchen verursacht. Wird die DNA nicht ordnungsgemäß repariert, kann dies zu Tumoren führen oder andere negative Folgen haben“, berichtet Matthias Huelsmann. Die Verluste anderer Gene schützen Wale vermutlich vor der Bildung von Blutgerinnseln und vor Lungenschäden beim Tauchen.
Aber es veränderten sich nicht nur Anatomie und Physiologie von Walen und Delfinen, sondern auch bestimmte Aspekte ihres Verhaltens. Insbesondere ist es im Ozean schwierig, längere Zeit zu schlafen, da die Tiere regelmäßig zum Atmen auftauchen müssen. Dies führte dazu, dass bei Walen und Delphinen jeweils nur eine Hälfte des Gehirns schläft, während die andere Hälfte Bewegung und Atmung koordiniert. Interessanterweise fanden die Forscher, dass alle Gene, die zur Bildung des schlafregulierenden Hormons Melatonin benötigt werden, bei Walen und Delfinen verloren gegangen sind. Diese Genverluste könnten eine Voraussetzung gewesen sein, sich diese spezielle Schlafweise anzueignen.
Michael Hiller, der die Studie leitete, resümiert: „Wir haben neue Hinweise gefunden, dass der Verlust von Genen während der Evolution manchmal von Vorteil sein kann. Das bestätigt auch frühere Ergebnisse unserer Forschungsgruppe, dass der Verlust von Genen ein wichtiger evolutionärer Mechanismus ist.“