Detaillierte Kartierung des Genoms von Meeresschildkröten

Internationale Forschungsarbeiten zeigen, dass die Zukunft der Meeresschildkröten in ihrer Evolutionsgeschichte liegen könnte.

Grünen Meeresschildkröte. Foto: RobertoCostaPinto/ Wikimedia Commons. This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International license.

Vor etwa 100 Millionen Jahren siedelte eine Gruppe von Landschildkröten in die Ozeane über und entwickelte sich zu den Meeresschildkröten, die wir heute kennen. Die genetischen Grundlagen, die es ihnen ermöglichten, in den Ozeanen der ganzen Welt zu überleben, waren jedoch bisher weitgehend unbekannt. In einer kürzlich in den Proceedings of the National Academy of Sciences veröffentlichten Studie präsentierte ein internationales Forscherteam unter der Leitung der University of Massachusetts Amherst (UMass), USA, in Zusammenarbeit mit dem Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin, Deutschland, und dem Vertebrate Genome Project (VGP), zu dem auch das Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG) in Dresden und das Rockefeller University Vertebrate Genome Lab in New York gehören, eine äußerst detaillierte genetische Kartierung von zwei Schildkrötenarten: der Grünen Meeresschildkröte und der Lederschildkröte. Diese Kartierung steckt voller Überraschungen und könnte den Schlüssel für ihr Überleben in einer sich rasch verändernden Welt darstellen. Angesichts der rasanten Umweltveränderungen könnte das Wissen um den genetischen Hintergrund dieser bemerkenswerten Anpassung entscheidend für ihre Arterhaltung sein.

Das Genom einer einzelnen Spezies, also die genetischen Anweisungen, die für den Aufbau der Spezies verwendet werden, kann man sich wie eine Bibliothek vorstellen. Jedes Chromosom ist ein Buch, und die einzelnen Gene selbst sind Sätze. Die Sequenzierung des Genoms einer Art ist ein enormer Arbeitsaufwand, der einer Übersetzung der gesamten Bibliothek in eine für Wissenschaftler lesbare Sprache entspricht und erst in den letzten zwei Jahrzehnten möglich wurde. Seit 2013 liegt für Grüne Meeresschildkröten ein „Entwurf“ des Genoms vor, der etwa 100.000 genetische Informationen enthält, „aber“, so Blair Bentley, Postdoktorandin im Bereich Umweltschutz an der UMass Amherst und Hauptautorin der neuen Studie, „diese genetischen Informationen waren nicht genau kartiert. Es war, als würde man eine Bibliothek betreten und 100.000 Seiten eines Buches auf dem Boden liegen sehen.“ Fehler, Auslassungen, Lücken, falsche Zusammenstellungen und Fragmentierung in Genom-Entwürfen können zu falschen Schlüssen führen.

Um die Genome der Grünen Meeresschildkröte (Chelonia mydas) und der Lederschildkröte (Dermochelys coriacea) genauer zu katalogisieren, nutzte das internationale Team neue Technologien wie die Pacbio-Langzeitsequenzierung - eine Innovation, die kürzlich zur Methode des Jahres 2022 gekürt wurde. Damit ist es möglich, die Genome nahezu aller lebenden Arten zu sequenzieren, und zwar mit weitaus größerer Genauigkeit als bisher. Die Sequenzierung der Schildkrötengenome wurde von zwei Sequenzierzentren des Vertebrate Genome Project (VGP) durchgeführt: Das Genom der Lederschildkröte wurde an der Rockefeller University im Vertebrate Genome Laboratory (VGL) unter der Leitung von Erich Jarvis, dem Vorsitzenden des VGP, und Olivier Fedrigo, dem Direktor des VGL, sequenziert, während das Genom der Grünen Meeresschildkröte am MPI-CBG unter der Leitung von Eugene Myers und in Zusammenarbeit mit Sylke Winkler vom MPI-CBG und dem DRESDEN-concept Genome Center sequenziert wurde. Alle sind Koautoren der neuen Studie. Die Forscher verwendeten eine Kombination verschiedener "Long-Read"-Sequenzierungstechnologien, um vollständige und zusammenhängende Genome zu erhalten. Längere Sequenzstücke sind wichtig, da sie komplexe und sich wiederholende Teile im Genom auflösen und überspannen können und damit eindeutige Zuordnungen erlauben. Diese Genome gehören zu den qualitativ hochwertigsten Genomen, die bisher bei Reptilien (Vögel nicht eingeschlossen) sowohl in Bezug auf die Vollständigkeit als auch auf die Kontinuität erstellt wurden. „Ich bin sehr froh, dass unser hochwertiges Referenzgenom die Ergebnisse dieser Studie ermöglicht hat. Ich gehe davon aus, dass diese hochwertigen Referenzgenome die Genomik revolutionieren werden.“ sagt Gene Myers. Bentley erklärt: „Diese Fortschritte haben es uns ermöglicht, alles nach dem Dewey-Dezimalsystem zu ordnen, so dass wir nun verstehen können, wie alles zusammenpasst.“

Nachdem die Autorinnen und Autoren die genetischen Daten korrekt angeordnet und kommentiert hatten, wurden durch die gemeinsamen Bemühungen der Forschungsgruppen von Camila Mazzoni, einer der beiden Hauptautorinnen der Studie und Gruppenleiterin für Evolutionary and Conservation Genomics am Leibniz-IZW und dem Berliner Zentrum für Genomik in der Biodiversitätsforschung (BeGenDiv), und Lisa Komoroske, Professorin für Umweltschutz an der UMass und die andere Hauptautorin der Studie, mehrere Überraschungen aufgedeckt. Die erste ist, dass ihre Genome bemerkenswert ähnlich sind, obwohl sich grüne und Lederschildkröten vor etwa 60 Millionen Jahren von einem gemeinsamen Vorfahren getrennt haben. Ähnlich, aber nicht identisch. Und genau in diesen Unterschieden könnte der Schlüssel zum Überleben der beiden Arten liegen, vor allem wenn man bedenkt, dass die Populationen sowohl der Grünen als auch der Lederschildkröten aufgrund menschlicher Eingriffe drastisch zurückgegangen sind.

Es stellte sich heraus, dass grüne Schildkröten mehr Gene für Immunität entwickelt haben, was auf ein Immunsystem hindeutet, das besser auf neue Krankheitserreger vorbereitet ist, sowie auf mehr Geruchsrezeptoren – sie haben einen besseren Geruchssinn. Das Genom der Lederschildkröten zeigt auch, dass ihre Populationen in der Vergangenheit geringer waren. „Dies ist sowohl ein Segen als auch ein Fluch“, sagt Komoroske, „denn es bedeutet, dass die Lederschildkröten zwar eine widerstandsfähige Art sind, dass es aber kaum eine genetische Vielfalt gibt, die es ihnen ermöglichen würde, sich weiterzuentwickeln, um den Herausforderungen ihrer sich schnell verändernden Umwelt zu begegnen.“ Erkenntnisse wie diese werden Naturschützern helfen, bessere Entscheidungen zu treffen, wie diese Tiere am besten geschützt werden können, da sie sich an unseren schnell verändernden Planeten anpassen müssen.

„Wir konnten diese Arbeit nur dank eines großartigen Kooperationsnetzwerks durchführen, das Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Bereichen mit Organisationen wie dem Vertebrate Genome Project und dem Southwest Fisheries Science Center der NOAA zusammenbrachte und von Geldgebern aus der ganzen Welt unterstützt wurde“, sagt Komoroske. Die Forschung wurde unterstützt von: der National Science Foundation, der National Oceanic and Atmospheric Administration, dem Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik, den National Institutes of Health, dem Howard Hughes Medical Institute, dem Vertebrate Genomes Project, dem Sanger Institute, der São Paolo Research Foundation, dem deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung, der Generalitat de Catalunya, der La Caixa Foundation, der Wiener Wissenschafts- und Technologiefonds, Stadt Wien, der Welsh Government Sêr Cymru II, dem Forschungs- und Innovationsprogramm Horizont 2020 der Europäischen Union im Rahmen des Marie Skłodowska-Curie-Stipendiums, dem Florida Sea Turtle Grants Program und einzelnen internationalen Spendern.