Regressive Evolution: Gliedmaßenverlust bei Schlangen und Degeneration der Augen bei unterirdisch lebenden Säugetieren

Was uns Genome über die Evolution von Merkmalen in Tieren sagen können

Abgottschlange (Boa constrictor) © Renato Recoder

Der Verlust von Merkmalen ist ein wiederkehrendes Thema in der Evolution der Tiere. Einige bekannte Beispiele sind der Zahnverlust bei Vögeln, der Augenverlust bei Tieren, die in Höhlen leben, und der Verlust des Schwanzes beim Menschen. Eine faszinierende Frage für Forscher ist daher, wie genau diese Eigenschaften verloren gegangen sind und welche genetischen Komponenten eine Rolle beim Verlust eines Merkmals gespielt haben könnten.

Die bekannteste genetische Komponente sind Gene. Gene tragen die Informationen zur Herstellung von Proteinen, die wichtige Komponenten aller Prozesse und Gewebe im Körper sind. Allerdings tragen alle Zellen im Körper genau den gleichen Satz von Genen, aber jedes Tier besteht aus vielen verschiedenen Geweben. Die Herausbildung verschiedener Gewebe aus demselben Genotyp ist durch räumliche, zeitliche und quantitative Unterschiede in der Expression der Gene möglich. Diese Feinabstimmung der Genexpression wird durch eine zweite genetische Komponente, die genregulatorischen Elemente, ermöglicht. Diese steuern, wo, wann und wie viel des Gens exprimiert wird. Veränderungen in den genregulatorischen Elementen beeinflussen, wann und wo ein Gen exprimiert wird und können zur Bildung einer unterschiedlich großen oder geformten Struktur, zu einer völlig neuen Struktur oder zum Verlust der Struktur führen.

Die Forschungsgruppe um Michael Hiller, die am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG), dem Max-Planck-Institut für die Physik komplexer Systeme (MPI-PKS) und dem Zentrum für Systembiologie Dresden (CSBD) arbeitet, ist daran interessiert, den Zusammenhang zwischen Veränderungen der DNA und dem Verlust von Eigenschaften bei Tieren zu verstehen. In ihrer neuesten Studie führten die Forscher eine groß angelegte Vergleichsstudie durch, um die genetischen Veränderungen zu identifizieren, die mit dem Verlust von Gliedmaßen bei Schlangen und der Degeneration von Augen bei unterirdisch lebenden Säugetieren verbunden sind.

Für diese Analyse war es notwendig, Genome von guter Qualität zu haben. Während bereits viele Genome von Säugetieren sequenziert sind, die die Grundlage für leistungsfähige evolutionären Analysen sind, sind nur wenige Genome von Reptilien bisher sequenziert. Deshalb haben die Wissenschaftler in einem ersten Schritt große Anstrengungen unternommen, das Genom der Tegu-Eidechse zu sequenzieren und zusammenzusetzen. In einer kürzlich erschienenen Veröffentlichung in Zusammenarbeit mit Gene Myers am MPI-CBG und CSBD, und dem DRESDEN-concept Genome Center zeigten sie, dass dieses Genome das bisher zusammenhängendste und vollständigste Reptilien-Genom ist.

Mit nun allen vorliegenden Genomen führten die Forscher eine genomweite Vergleichsanalyse durch, um die Regionen des Genoms zu identifizieren, die bei Arten mit Gliedmaßen oder gut entwickelten Augen vorhanden und konserviert waren, die aber bei Schlangen oder unterirdischen Säugetieren degeneriert waren oder ganz fehlten. Das Prinzip dieses Ansatzes ist es, dass eine DNA-Sequenz, die eine Funktion hat keine oder wenig Mutationen zulässt, die ihre Funktion potenziell zerstören könnten.

Anstatt die Gene zu betrachten, konzentrierten sich die Forscher auf konservierte Regionen außerhalb der Gene, mit dem Ziel, diejenigen Elemente zu erfassen, die die Expression von Genen regulieren. Sie fanden Tausende von potentiellen genregulatorischen Elementen, die in den Genomen von Schlangen und unterirdischen Säugetieren degeneriert sind oder gelöscht wurden. Diese Elemente befinden sich insbesondere in der Nähe von Genen, die an der Bildung von Gliedmaßen und Augen beteiligt sind, und überlappen auch aktive genregulatorische Elemente. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass diese degenerierten Regionen genregulatorische Elemente sind, die die Expression von Gliedmaßen- und Augen-Genen bei Arten mit normalen Gliedmaßen und Augen kontrollieren, und dass die weit verbreiteten DNA Mutationen, die bei Schlangen und unterirdischen Säugetieren stattfanden, zur Fehlbildung und zum Verlust dieser Strukturen beigetragen haben.

„Obwohl wir noch nicht wissen, welche dieser DNA Veränderungen die Ursache für den Verlust von Gliedmaßen bei Schlangen und Augen bei unterirdischen Säugetieren waren, ergab unsere Studie eine umfassende Liste genetischer Unterschiede bei diesen Tieren, die mit dem Verlust dieser Merkmale in der Evolution assoziiert sind“, fasst Juliana G Roscito, die Hauptautorin der Studie, zusammen.