Schwanz oder Kopf?

Forscher entschlüsseln eine wichtige Grundlage der Regenerationsfähigkeit von Plattwürmern

Ist der Gradient aus Beta-Catenin ausgeschaltet, übernimmt das System, das Signale für den Kopf sendet, die volle Kontrolle. Dann sprießen am Rande des Plattwurms neue Köpfe. Das Bild zeigt ein "mehrköpfiges Monster" - blau eingefärbt sind entstehende Köpfe mit orangefarbenen Augen.

Plattwürmer können ihren Körper bei jeder Art von Verletzung komplett reparieren und verlorengegangene Teile des Körpers immer perfekt nachwachsen lassen, selbst wenn sie in winzige Stuecke zerhackt werden. Damit die Stammzellen in dem verletzten Gewebe wissen, was zu tun ist, braucht der Wurm eine Art Koordinatensystem, das festlegt, wo vorne und wo hinten ist. Forscher des Max-Planck-Instituts für molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG) in Dresden haben jetzt belegen können, dass ein sich selbst organisierendes System aus zwei unabhängigen Untersystemen dem Plattwurm permanent Zeichen geben, wo sich Kopf und Schwanz befinden: Zwei gegenläufige Konzentrationsgefälle von Signalproteinen definieren auf diese Weise eine Vorne-Hinten-Achse im Körper des Plattwurms.

Die hohe Regenerationsfähigkeit von Plattwürmern macht sie zu einem beliebten Modellorganismus unter Regenerationsforschern: Man kann den Wurm an einer beliebigen Stelle zerschneiden, und es wird an beiden Hälften das genau richtige Gegenstück nachgebildet. Man kann das kleine, unscheinbare Tier sogar in über 200 Teile zerstückeln, und aus jedem Schnipsel wächst wieder ein neuer Wurm – besser: 200 kleingeschrumpfte Würmer. Da Größe und Geometrie bei Plattwürmern also extrem variabel sein können, wurde schon lagen vermutet, dass dem Körperbauplan ein Muster unterlegt sein muss, dass wie ein Koordinatensystem für Orientierung sorgt, und zwar im Normalfall wie auch bei schweren Verletzungen und der dann einsetzenden Regeneration. Bekannt war bereits, dass bei der Schwanzregeneration das Signalprotein Wnt eine Nachrichtenkette auslöst, an deren Ende das Molekül ß-Catenin steht. Die Max-Planck-Forscher um Jochen Rink konnten jetzt zeigen, dass ein Wnt-Gradient die Genexpression musterartig reguliert: In der Schwanzspitze kommt das Protein hochkonzentriert vor und wird in Richtung Kopf immer schwächer. Des Weiteren werden die fuer die Gradientenbildung erforderlichen Gene selbst vom Gradient reguliert, wodurch sich der Gradient im Verletzungsfall an jeder beliebigen Stelle des Wurmes selbst organisieren kann.

Dem ist ein zweites System gegenübergestellt, das vom Kopf aus Signale sendet und so anzeigt, wo vorne ist. Welche Faktoren Teil dieses Systems sind, ist bisher nicht bekannt. Doch klar scheint, dass das Kopf- und das Schwanzsystem gegenseitige Gegenspieler sind, die ein sich selbst organisierendes System ergeben, das den Körper wie ein Koordinatensystem entlang einer Achse von Kopf bis Schwanz durchsegmentiert. Dieses System reguliert auch die Aktivität bestimmter Gene. So kann der Körper bei einer Verletzung gut lokalisieren, wo sie stattgefunden hat und dementsprechend das richtige Programm zur Neubildung des fehlenden Gewebes initiieren.

Um die in Richtung Kopf abnehmende Konzentration des Proteins ß-Catenin erstmals nachweisen zu können, benötigte das Forschungsteam spezifischere Antikörper. „Das war eine der größten Herausforderungen, an der wir lange gearbeitet haben, die Experten der Antibody Facility am MPI-CBG haben dann geschafft, das zu liefern, was wir brauchten,“ erzählt Tom Stückemann anerkennend, der einen Großteil der Experimente durchgeführt hat. Die Untersuchungen führten die Forscher mit Kollegen des Max-Planck-Instituts für Physik komplexer Systeme sowie dem Center for Advancing Electronics Dresden der Technischen Universität durch. Die Ergebnisse veröffentlichten sie in der Fachzeitschrift Developmental Cell.

Originalveröffentlichung

Tom Stückemann, James Patrick Cleland, Steffen Werner, Hanh Thi-Kim Vu, Robert Bayersdorf, Shang-Yun Liu, Benjamin Friedrich, Frank Jülicher, Jochen Christian Rink:

Antagonistic Self-Organizing Patterning Systems Control Maintenance and Regeneration of the Anteroposterior Axis in Planarians.

Developmental Cell, 6. Februar 2017